Novemberkatze

Bruno Schoog
Wird nach einem Wurf im Sommer spät im Jahr noch ein kleineres Kätzchen geboren, spricht man von einer Novemberkatze. Das trifft im übertragenen Sinne auch auf das MS Stockhorn zu: Nach vielen grossen Schiffsneubauten in der Hochkonjunkturphase kam, als die Epoche eigentlich schon beendet war, 1974 noch ein kleineres Motorschiff zur Flotte hinzu.

Um den Zeitpunkt des Umbruchs der Epochen der Schifffahrt auf dem Thunersee, an dem MS Stockhorn beschafft wurde, begreiflich zu machen, sei zuerst in die Endphase der Hochkonjunkturzeit zurückgegriffen.

 

Konjunktur und Inflation

Der Tagesausflugsverkehr und der Fremdenverkehr am Thunersee hatten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nur eine Richtung gekannt: aufwärts. 1971 wurde zum frequenzstärksten Jahr der Thunersee-Schifffahrt überhaupt, und im folgenden Jahr erreichte die Zahl der Übernachtungen in Interlaken einen neuen Rekord. Auch wenn die Frequenzen der Schiffe und die Belegung der Hotelbetten 1973 zur hohen allgemeinen Zufriedenheit ausfiel – die genannten Rekordwerte wurden trotz besseren Wetters nicht mehr erreicht. Schon zeichnete sich durch die hohe Inflation das nahe Ende einer Epoche ab.

 

Preiserhöhungen

Um den Wechselkurs des stark schwächelnden Dollars einigermassen stabil zu halten, hatte die Schweizerische Nationalbank zusammen mit der Deutschen Bundesbank in Frankfurt massiv am Devisenmarkt interveniert und hohe Beträge von Schweizer Franken gegen US-Dollars am Devisenmarkt verkauft – mit starken inflationären Nebenwirkungen. Eine Fahrt in der 2. Klasse von Thun nach Spiez einfach kostete 1973 den Betrag von 2.80 Franken statt 2.60 Franken im Jahr 1971, eine Fahrt in der 1. Klasse von Thun nach Interlaken und zurück 1973 den Betrag von 14.00 Franken an Stelle von zwei Jahre zuvor 12.40 Franken. Auch wenn die absoluten Beträge der Fahrpreise aus heutiger Sicht gering erscheinen mögen – die Preise hatten sich innerhalb von zwei Jahren um durchschnittlich 10% erhöht. Aber noch liessen sich die Urlauber die Ferienstimmung trotz Kaufkraftverlust nicht verdriessen – die Lohnerhöhungen glichen ihn wieder aus. So erzielten die Schiffe des Thunersees 1973 immerhin noch das zweithöchste je gemessene Fahrgastaufkommen, auch wenn die Urlauber aus den Vereinigten Staaten wegen des schwachen Dollarkurses schon weniger wurden, hingegen die Deutschen und Japaner zahlreicher.

 

Ein Schiff für die KABA

Für das folgende Jahr 1974 war ursprünglich mit noch höherem Verkehr als im Vorjahr gerechnet worden, sollte doch nahe bei Thun wie schon 1949 die Kantonalbernische Ausstellung KABA, eine verkleinerte «Landi», stattfinden. Auf dem Ausstellungsgelände von 1949 waren inzwischen Sportanlagen entstanden. Als neues Ausstellungsgelände war der Bonstettenpark etwas nördlich von Gwatt vorgesehen. Wie schon 1949 lag das Ausstellungsgelände ganz nah am Thunersee und sollte wie damals Schiffsanschluss erhalten.

 

Einem nochmals ausgeweiteten Verkehr war die Flotte des Thunersees aber nicht mehr gewachsen. Ihre letzte wirkliche Erweiterung war das 1954 beschaffte MS Jungfrau. Seither waren nur noch Raddampfer durch Motorschiffe ersetzt worden, wenn auch meistens mit etwas höherer Kapazität als die ausscheidenden Schiffe. Die Direktion der BLS (Bern-Lötschberg-Simplon-Bahn) hatte schon Jahre zuvor darauf hingewiesen, dass das zur Verfügung stehende Platzangebot der Schiffe auf dem Thunersee ohnehin viel knapper bemessen sei als auf den meisten anderen Seen der Schweiz.

 

Ein Schiff aus Linz

Die bevorstehende KABA war Anlass die Leistungsfähigkeit der Flotte zu erhöhen und sie zugleich zu modernisieren. So bestellte die BLS bei der Schiffswerft in Linz am 20. Dezember 1972 ein neues Motorschiff, das sich an die bewährte Raumaufteilung des 1969 für den Brienzersee bei der gleichen Werft bestellten MS Iseltwald anlehnte. Bei der Konstruktion konnten Verbesserungen angebracht werden, da die noch zur Zeit der Konstruktion von MS Iseltwald bestehende Obergrenze für das Gewicht eines Schiffes mit zwei Personen Besatzung inzwischen so nicht mehr galt. Das erlaubte es, das MS Stockhorn etwas länger und vor allem mit einem etwa 30 Centimeter breiteren Rumpf auszuführen, was der Stabilität des Schiffes zuträglich war. Die grössere Länge ermöglichte es auch, für die Ruderanlage eine günstigere Position als bei MS Iseltwald zu wählen. Diese Änderung hat sich später im Betrieb bewährt und ist beim Umbau des MS Iseltwald 1992/93 auch auf dieses Schiff übertragen worden. Im Gegensatz zu MS Iseltwald besass das neue Schiff von Anfang an zwei Abwassersammeltanks, deren Inhalt von total 3‘000 Litern Fassungsvermögen in das Kanalisationsnetz eingespeist werden konnte. Für die Energieversorgung kam sowohl eine Dieselgeneratorgruppe zum Einbau wie eine Anschlussmöglichkeit an das allgemeine Stromnetz zur Energieversorgung bei längeren Stationsaufenthalten und über Nacht. Eine leistungsfähige Zentralheizung sorgte an kälteren Tagen für einen angenehmen Aufenthalt in den Innenräumen.

 

Leistungsfähige Gastronomie

Es stellte damals noch einen entscheidenden Fortschritt dar, dass auch ein eher kleineres, für 250 Fahrgäste ausgelegtes Schiff mit einer leistungsfähigen Restaurationseinrichtung versehen werden konnte: Einem Eisschrank mit einem Volumen von 580 Litern (dessen Volumen nach der Auftragserteilung noch auf diesen Wert erhöht worden war), einem Zweiplatten-Rechaud, einem Kaffeeautomaten und einer Geschirrspülmaschine.

 

Keine KABA

Wirtschafts- und Währungspolitik standen in den frühen 1970er Jahren besonders im Zentrum des schweizerischen öffentlichen Interesses: Die oben schon beschriebenen hohen verfügbaren Geldmengen trieben die Nachfrage nach Gütern, Dienst- und Bauleistungen bis an die Kapazitätsgrenzen von Ressourcen und Arbeitsmarkt – Arbeitskräfte waren kaum noch zu bekommen – und sorgten zugleich für einen massiven Anstieg der Inflation. Diese Nebenwirkung aber war unvermeidbar, wenn dem unerwünschten Verfall des US-Dollar-Kurses begegnet werden sollte. Zur Inflationsbekämpfung setzte der Bundesrat stattdessen auf Konjunkturdämpfungsmassnahmen: Alles, was noch zusätzliche Nachfrage schuf, galt es zu vermeiden. Im Zusammenhang mit dieser Politik fiel am 3. Februar 1972 die Entscheidung, nicht durch solche zusätzliche Nachfrage von Bau- und Arbeitsleistungen für die KABA 1974 die inflationäre Lage der Wirtschaft der Schweiz noch weiter zu verschärfen – die KABA wurde daher abgesagt.

 

Doch das neue Schiff kommt

Diese Entscheidung fiel somit nur wenige Wochen nach der Bestellung des neuen Schiffes. Wurde nun versucht, die Bestellung rückgängig zu machen? Anhaltspunkte dafür haben sich in den Unterlagen jedenfalls nicht gefunden. Oder bestand die Schiffswerft Linz trotz Anfrage auf dem Vertrag? Oder wünschte die BLS das Schiff trotz Ausfalls der KABA, nachdem der Verwaltungsrat die Mittel schon freigegeben hatte? Für Letzteres spricht am meisten, denn der Schiffsbestand war eher knapp bemessen und trotz Überhitzungstendenzen der Wirtschaft wurde noch immer von weiter steigender Nachfrage ausgegangen. Jedenfalls blieb es bei dem Neubau. So fand am 17. Juli in Linz die Kiellegung statt und bis zum 30. Oktober war der provisorische Aufbau des Schiffes dort vollendet.

 

Der Sommer 1973 am Thunersee

Auch wenn die Übernachtungszahlen 1973 nicht mehr ganz die des Vorjahres erreichten, so war es dennoch eine ausgezeichnete, unbeschwerte Saison mit einem optimistischen Blick auf Gegenwart und Zukunft wie er für die frühen 1970er Jahre typisch war. Das soll ein Stimmungsbild von damals zeigen.

 

Doch das neue Schiff kommt

Rund um den Thunersee waren Hotels, Ferienwohnungen und Campingplätze sehr gut belegt. Mit der Eröffnung der letzten fehlenden 14 Kilometer, der Teilstrecke Muri – Kiesen, und dem Wankdorf-Dreieck in Bern am 29. Juni 1973 war die Autobahn N 6 lückenlos bis ins Berner Oberland befahrbar. Wieder wurde es leichter mit eigenem Wagen die Region Thunersee zu erreichen und wieder traten noch mehr neumotorisierte Familien ihren Urlaub mit dem eigenen Auto statt mit dem Zug an. Überhaupt spielten neue Automodelle in einer Zeit, die ganz dem Individualverkehr zugetan war, eine viel bedeutendere Rolle als heute: In aller Munde und bestaunt war in diesem Jahr der neue «Passat», mit dem VW in die Mittelklasse vorrückte, nachdem im Vorjahr Audi seinen Aufsehen erregenden neuen Mittelklassewagen «Audi 80» vorgestellt hatte. Mittelklassewagen statt «Käfer» und Anreise mit eigenem Auto in den Urlaub – das waren Zeichen des gesellschaftlichen Aufstiegs und des neu erworbenen Wohlstandes in jenen Jahren. Tauchten solche Wagen auf, fanden sich vor ihnen schnell mehr Hobbyfotographen ein als für jedes neue Motorschiff.

 

Wer von den Bergorten wie Krattigen, Hondrich oder Aeschi für eine Schifffahrt zur Ländte nach Spiez gelangen wollte, tat auch gut daran, den eigenen Wagen zur Verfügung zu haben – einen Stundentakt per Bus bis zum See gab es nicht, und eine Abstellmöglichkeit für den Wagen in der Nähe der Ländte stellte noch kein unüberwindliches Problem dar.

 

Emanzipation

Im August 1973 durchstieg erstmals eine reine Frauenseilschaft die Eigernordwand. Bergsteiger in der Eigernordwand waren noch nicht alltäglich und lösten auf der Kleinen Scheidegg einen Ansturm auf die Fernrohre aus. Die Zeichen der 1968 ausgelösten Emanzipationswelle reichten also genauso wie die langen Haare jener Jahre bis ins Oberland. Aus den Transistorradios auf den Campingplätzen am See tönte beständig der Hit des Jahres – Katja Ebsteins «Stern von Mykonos» (die Urlaubssehnsucht ging inzwischen weiter als bis Italien) und das in neuer Qualität: Immer mehr Radiosender gingen dazu über, ihre Programme in Stereo über UKW (Ultrakurzwelle) zu übertragen. Jodler konnte man noch viel häufiger auf den Schiffen in Aktion erleben als heute, und das Füttern der Möwen vom Schiff aus war noch nicht verboten.

 

Exzellenter Fahrplan auf dem Thunersee

Die Fahrzeiten des ersten Hauptkurses am Vormittag mit MS Blümlisalp (heute «Stadt Thun») mussten auf die Saison hin verlängert werden, um den Fahrplan stabil halten zu können. Die Schifffahrt der BLS offerierte einen exzellenten Fahrplan: Es gab ein umfassendes tägliches Fahrplanangebot, bei welchem das MS Niesen im Hochsommer mit dem Frühkurs Thun bereits um 06.25 Uhr verliess und bis Beatenbucht und zurück nach Thun verkehrte. Urlauber aus Spiez nutzten gerne den zweiten Motorbootkurs mit der «Niesen» um 9.19 Uhr ab Spiez zu einem Tagesausflug nach Thun per Schiff. Noch gab es die Ergänzungsfahrten mit dem MS Oberhofen als Schattenseitenexpress am oberen linken Seeufer über Leissigen und Därligen. Der erste Kurs nach Interlaken verliess Thun bereits um 07.30 Uhr und es war möglich, noch um 19.05 Uhr im Hochsommer von Interlaken bis nach Thun zu gelangen.

 

Längere Schifffahrten und hohe Frequenzen

Schifffahrten wurden intensiver unternommen – eine Fahrt auf einem der Oberländer Seen galt als ein zentrales Ferienerlebnis und fand entsprechend ausgedehnt statt. Gegen kurz vor 13.30 Uhr sammelten sich an schönen Tagen an der Ländte Interlaken West nach ihrem Mittagessen viele Hotelgäste und warteten geduldig auf die Türöffnung von MS Jungfrau. Viele nutzten das Schiff auf der ganzen Seelänge, bis Thun und kehrten mit ihm kurz vor 18 Uhr rechtzeitig zum Diner im Hotel wieder zurück.

 

In den ersten neun Septembertagen setzte die Hochkonjunkturphase nochmals zu einem Höhepunkt an, als sei es der Schlussakkord einer grossen Epoche der Oberländer Schifffahrt: An diesen neun Tagen wurden 132‘000 Fahrgäste befördert, so viele wie sonst allenfalls in der Hochsaison bei beständig gutem Wetter. Zum Urlauber- und Ausflugsverkehr gesellte sich eine sehr grosse Zahl von Schulreisen. Allein diese neun Tage sorgten für etwa 10% der Jahresfrequenz.

 

Krieg und «Ölwaffe»

Keine vier Wochen später war eine Epoche jäh zu Ende. Am 6. Oktober 1973 entnahm die entsetzte Weltöffentlichkeit den Nachrichten, dass die arabischen Armeen von Ägypten und Syrien am hohen jüdischen Feiertag Jom Kippur (Versöhnungstag) Israel überraschend überfallen hatten. Nach ersten schwierigen Tagen gelang es Israel die Offensive zurückzugewinnen und die arabischen Armeen vernichtend zu schlagen. Nun aber griffen die in der OPEC zusammengeschlossenen vor allem arabischen Staaten zur «Ölwaffe» gegen den Westen. Bald stand ein Ölembargo im Raum. Die drastischen Preiserhöhungen für Mineralölprodukte trafen die von Öl viel stärker als heute abhängige und durch die hohen Inflationsraten schon geschwächte westliche Wirtschaft ins Mark. Die Inflationsrate stieg dadurch weiter auf 12% im Dezember 1973.

 

Der schweizerischen Bevölkerung wurde die Krise besonders sinnfällig durch drei autofreie Sonntage gegen Ende des Jahres und Tempo 100 auf Autobahnen.

 

Dunkle Befürchtungen machten die Runde, die besten Jahre seien vorbei. Ganz so schlimm kam es nicht, obwohl das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 1975 um 7% sinken sollte. Der alte Optimismus kehrte nicht mehr zurück.

 

Das neue Schiff kommt

In diese Zeit des Umbruchs fiel der Aufbau des neuen Schiffes in der Werft in Dürrenast. Er begann am 19. November 1973 und dauerte bis zum Stapellauf am 9. April 1974. Zwei Tage später fand die Abnahme des Schiffes durch das Eidgenössische Amt für Verkehr statt – vormittags der Krängungsversuch und nachmittags die Probefahrt, bei der das Schiff auf einer Strecke von 2,14 Kilometern zwischen Oberhofen und dem Oertli in der Spitze bei einer Motorleistung von 1775 U/min eine Höchstgeschwindigkeit von 25,2 km/h erreichte. Die Erprobung verlief erfolgreich, und sofort konnte das Schiff wie vorgesehen für 250 Personen freigegeben werden.

 

Jungfernfahrt

Seine Jungfernfahrt fand am 7. Mai 1974 statt.  Das Wetter präsentierte sich an diesem Tag ähnlich wie die Zukunftsaussichten gesehen wurden – trüb, es war ein Schlechtwettertag. Das Personal trat an diesem Tag um 13.00 Uhr den Dienst an der Werft an und steuerte das neue Schiff zur Ländte Thun-Bahnhof. Dort lag es ab 13.45 Uhr zum Einstieg der Ehrengäste bereit und verliess die Station um 14.30 Uhr nach Oberhofen. Bei der Ausfahrt aus der Aare stiess das von der Werft kommenden MS Thun (später «Kyburg») zu ihm und begleitete es bis Oberhofen. Dort legte MS Stockhorn an der Ländte an. Sein Name war noch durch ein Tuch verhüllt. Nun wurde von der Taufpatin der Taufakt vollzogen und gleichzeitig entfernten Kapitän und Matrose das den Namen verhüllende Tuch – «Stockhorn» hiess es.

 

Namensgebung

Der Name stammt von dem markanten Aussichtsberg, der südwestlich des Thunersees am Eingang in das Simmental gelegen ist. Seit 1969 war der Gipfel des Berges von Erlenbach aus mit einer neuen Luftseilbahn erreichbar geworden. Mit der Verleihung des Namens eines neu erschlossenen Aussichtsberges an ein neues Schiff steht das MS Stockhorn in einer längeren Tradition der Oberländer Schifffahrt. 1959 hatte das neue Motorschiff auf dem Thunersee nicht etwa den Namen des ausscheidenden Vorgängers übernommen, denn dann wäre es «Helvetia» genannt worden, sondern den des 1946 mit einer Sesselbahn erschlossenen Aussichtsberges «Niederhorn». 1950 hatte das neue Motorschiff auf dem Brienzersee den Namen Rothorn erhalten. Dieser Berg war zwar schon seit 1892 durch eine Zahnradbahn erschlossen, jedoch stand diese seit Beginn des Ersten Weltkrieges bis 1931 ausser Betrieb, so dass sie dann fast wie ein neues Verkehrsangebot erschienen war. Im weiteren Sinne steht auch das MS Schilthorn in dieser Tradition, jedoch stand die Schilthornbahn bei Inbetriebnahme des Schiffes schon seit mehr als dreissig Jahren im Betrieb.

 

Festliche Fahrt

Nach dem knapp 30 Minuten dauernden Taufakt trat das Schiff seine Jungfernfahrt an. Nach einem fast schon traditionellen Brauch wurde es in Kiellinie von einem zweiten Schiff mit Schulkindern begleitet. Das MS Thun hatte dazu in Oberhofen angelegt und diese aufgenommen. Um etwa 16.45 Uhr ging die Jungfernfahrt in Thun zu Ende. Schon am nächsten Morgen nahm das neue Schiff mit dem Kurs um 10.20 Uhr nach Interlaken den Fahrplandienst auf. Das Sonnendeck mit seinen abweichend von den anderen Schiffen auffällig rot gestrichenen Bänken fand bald Liebhaber.

 

Im täglichen Einsatz

Das neue Schiff fand schnell auch in veränderter Zeit seinen Platz in der Flotte jenseits der ursprünglichen Planung: Mit ihm war ein komfortables Schiff zur Flotte gestossen, welches, allein schon von seiner Grösse her, zugleich ein sehr treibstoffsparendes Schiff war. Da die Kosten des Dieselöls seit der Ölkrise ganz erheblich gestiegen waren, wurde das Schiff, statt der KABA zu dienen, öfter in die Kurse grösserer Schiffe eingeteilt, für die es ursprünglich gar nicht vorgesehen gewesen war.

 

Ein Beispiel: Ostern lag 1975 noch im März, weshalb an den beiden letzten Märztagen schon der Frühjahrsfahrplan galt. Nach schönem Beginn kam es in der Osterwoche zu einem Kaltlufteinbruch – statt Frühlingsgefühle Kälte und Schneeschauern über dem See. Für die Werktagskurse waren ursprünglich die grösseren Schiffe Beatus und Niederhorn eingeteilt. Des schlechten Wetters wegen wurde kurzfristig aber entschieden, auf den Kursen um 11.43 Uhr und 16.15 Uhr ab Thun das MS Stockhorn einzusetzen. Auch wenn der Platz manchmal etwas knapp wurde – der Einsatz bewährte sich und sparte Kosten.

 

Im Hochsommer übernahm das MS Stockhorn zudem von MS Niesen die Lokalkurse in den Tagesrandzeiten. Die Aufgabe, morgens den ersten Kurs, den Lokalkurs von Thun bis Beatenbucht, zu bestreiten, hat es bis zur Einstellung dieses Kurses nach dem Sommer 2003 wahrgenommen.

 

Günstiger Einsatz

Da MS Stockhorn nur zwei Besatzungsmitglieder benötigt, wurde es auch möglich, Leistungen anzubieten, deren Kosten bei den bisherigen Einheiten zu hoch lagen. Mit einer täglichen nachmittäglichen Kursfahrt von Thun nach Beatenbucht und zurück bis weit in den November hinein begann vor fünfzig Jahren die Ausdehnung der Schifffahrt bis in den späteren Herbst. Der Einsatz des grösseren MS Niederhorn wäre zu teuer gewesen und dem kleinen MS Niesen mit dem geringeren Komfort und der fehlenden Restauration wurde nicht zugetraut, eine ausreichend grosse Kundschaft anzulocken.

 

Trotz neuer Angebote und obwohl sich der konjunkturelle Rückschlag auf die Frequenzen nicht in dem Masse auswirkte, wie es anfangs befürchtet wurde – Zuwächse verzeichnete die Schifffahrt auf dem Thunersee nun nicht mehr. Die Grenze von 1,3 Mio. Fahrgästen im Jahr, die 1973 letztmals übertroffen worden war, wurde nie mehr erreicht. Die Flotte war durch das MS Stockhorn flexibel geworden und auch moderner, aber da Zuwächse ausblieben, gingen die Einsätze des neuen Schiffes hauptsächlich zu Lasten von MS Thun und MS Spiez.

 

Extrafahrten

Vor allem aber wurde das MS Stockhorn zum am meisten gefragten Schiff für die von Jahr zu Jahr zunehmenden Extrafahrten: Es hatte die ideale Grösse für kleinere Gesellschaften und war zugleich das kleinste Schiff der Flotte, welches noch über eine komplette Restauration verfügte.

 

Ein Blick in den Prospekt «Ihr Schiff» für Extrafahrten aus dem Jahr 1975 zeigt, dass die BLS damals eine einstündige Extrafahrt für 50 Personen mit MS Stockhorn zu einem Preis von 330 Franken offerierte. Wer mit der gleichen Anzahl Gäste vier Stunden auf dem Schiff verbringen wollte, zahlte bereits 940 Franken. Für Leerfahrten, sofern sie länger dauerten als die Extrafahrt, Unterbrechung der Fahrt mit Stilllager des Schiffes und Fahrten nach 20.00 Uhr war ein Zuschlag zu entrichten.

 

Als dem Schiff von 1985 bis 1988 im Hochsommer ein zusätzlicher spätnachmittäglicher und frühabendlicher Zusatzkurs nach Interlaken übertragen wurde, vermerkte der Fahrplan dazu «täglich ausser samstags». Denn das waren die Hauptnachfragetage nach Extrafahrten, für die MS Stockhorn damals kaum entbehrt werden konnte. Vor allem waren an Samstagen damals noch viel mehr Hochzeitsgesellschaften auszuführen, in einer Zeit als die Ehe noch stärker als Bund fürs Leben empfunden wurde statt als vorrübergehende Lebensabschnittspartnerschaft.

 

Weniger Einsätze

In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre begann der Stern des Schiffes zu sinken. Der Höhepunkt der Nachfrage an Extrafahrten war deutlich überschritten. Auch wurde die Rentabilität des Schiffes nun anders beurteilt: Auf je ein Besatzungsmitglied kamen bei ihm nur 125 verfügbare Plätze. Bei MS Stadt Thun (damals 1200 Personen Zuladung) kamen auf jedes Besatzungsmitglied 300 verfügbare Plätze. Daher wurden Kurse mit geringem Verkehrsaufkommen nach und nach aus dem Fahrplan genommen, was eben vor allem die Kurse von MS Stockhorn traf. Nach der Aufhebung des Frühkurses mit dem Fahrplan 2004 hatte MS Stockhorn fast keine Fahrplanleistungen mehr zu erbringen. Extrafahren und besondere Einsätze prägten nun die Verwendung des Schiffes. Als Bauarbeiten den Verkehr am rechten Ufer behinderten, war es vom 4. Juni bis 10. August 2007 auf Bestellung des Kantonalen Tiefbauamtes als Pendlerschiff im Einsatz, bei dem dank privatem Sponsoring gratis Kaffee und «Züpfe» im Angebot waren.

 

Umbau und neue Aufgaben

Um die Tauglichkeit des Schiffes für die ihm verbliebenen Rund- und Extrafahrten zu erhöhen, wurde 2007/08 der Innenraum komplett umgestaltet. Ein Einsatz im Kursdienst war nun nicht mehr vorgesehen.

 

Im vorderen Schiffsteil entstand eine Bar. Auf dem Sonnendeck traten Lounge-Sitzgruppen an die Stelle der Bänke. Vor allem war das bisherige Sonnendeck nun zum grossen Teil von Sonnensegeln überdeckt. Auch sonst wurde das Schiff dem veränderten Zeitgeschmack mit neuer Möblierung und neuen Vorhängen angepasst. Es wurde mit einer neuen barrierefreien WC-Anlage ausgestattet und eine neue Brandmeldeanlage erhöhte die Sicherheit an Bord. Neben Extrafahrten wurde es nun auch für abendliche «OaSee»-Fahrten genützt, bei denen der Name dafür steht, was die Fahrgäste an Bord empfinden sollen.

 

Nach den Wintermonaten auf Stapel lag es am 26. März erstmals wieder im Wasser. Gemäss neuem Schiffsausweis vom 25. April 2008 blieb es beim Fassungsvermögen von 250 Personen. Am Tag der Schweizer Schifffahrt, dem 27. April, wurde das erneuerte Schiff der Öffentlichkeit vorgestellt.

 

Und doch wieder im Kursverkehr

Aber wie so oft nahm die weitere Entwicklung einen unvorhergesehen Lauf: Die Winter wurden milder und die Winterschifffahrt profitierte davon. Hier fand das MS Schilthorn endlich auch eine angemessene Beschäftigung. Die Fahrgastzahlen legten in einer Weise zu, dass die Kapazität dieses Schiffes oft nicht mehr ausreichte, vor allem wenn das Frühjahr bevorstand. Noch stärker nahm die Zahl der Fahrgäste zu, als die BLS 2022 den sehr erfolgreichen «Seepass» mit pauschalem Preis für freie Fahrten über ein Jahr lang in der 1. Klasse einführte.

 

Zusatzkurse im Frühling

Zur Entlastung der Fahrten legte die BLS ab 2017   daher Zusatzkurse in der Vorsaison im März ein, die in folgenden Jahren noch vermehrt wurden.

 

Allerdings ist im Winter und Frühjahr der Wasserstand des Sees oft zu niedrig für den Einsatz der meisten Schiffe. Das galt umso mehr als nach der Saison 2021 das Motorschiff Niederhorn mit geringem Tiefgang ausser Dienst gestellt und leider abgebrochen wurde. Für diese Dienste genauso wie für Verstärkungsfahrten zu den Winterkursen von MS Schilthorn bietet sich fast nur noch MS Stockhorn mit einem Tiefgang (beladen) von nur 1,36 Metern an – ab einem Wert der Wasserhöhe des Thunersees von 557,17 m über Meeresspiegel ist der Einsatz des Schiffes möglich.

 

In diesem Jahr hat MS Stockhorn schon von Mitte Februar bis Ende März an allen Samstagen und Sonntagen Verstärkungsdienste für MS Schilthorn geleistet. Es wird vor allem im Frühjahr auch für die Ausbildung des Schiffspersonals am Steuer genützt. Insgesamt sind so seine Einsatzleistungen in den letzten Jahren angestiegen und erreichten im vergangen Jahr 4‘666 km und 91 Einsatztage.

 

Einsatz 2024

In diesem Jahr steht MS Stockhorn als Lounge-Schiff «OaSee» (Spezialpreis) mittwochs und donnerstags vom 3. Juli bis 19. September, Thun ab 19.00 Uhr im Einsatz (ohne Gewähr).

 

Technische Daten MS Stockhorn
Erbauer Schiffswerft, Linz
Kiellegung 17. Juli 1973
Stapellauf 9. April 1974
Erste fahrplanmässige Fahrt 8. Mai 1974
Länge über alles 35,70 Meter
Breite über alles 7,00 Meter
Mittlerer Tiefgang beladen 1,36 Meter
Wasserverdrängung 90 Tonnen
Antrieb GM-Dieselmotor
Verstellpropeller Durchmesser 1020 Millimeter
Besatzung 2 Personen
Tragkraft 250 Personen
Erneuerung Winter 2007/2008